Aufstieg und Niedergang des Nationalsozialismus haben eine heftige, lang anhaltende Diskussion über die Schuldfrage ausgelöst. Dabei reichen die Blickpunkte, Fragestellungen und Betroffenheiten vom emotionalen Bereich bis zu differenzierten historischen und politischen Fragestellungen.
Ende März 1945 schrieb ein am 2. April 1945 gefallener Student namens Walter Menzel stellvertretend für das Empfinden vieler angesichts der Katastrophe: „Wir dürfen nie vergessen, daß das, was über uns hereingebrochen ist und noch hereinbrechen wird, im ganzen verdient ist. Und erst, wenn wir unsere Schuld abgebüßt haben und wenn Frieden für uns wieder mehr ist als Ruhe und Faulheit, dann wird dieser Opfergang sein Ende nehmen."
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Martin Niemöller und Karl Barth einerseits, Otto Dibelius und Hans Asmussen andererseits waren die geistigen Väter des Stuttgarter Schuldbekenntnisses von 1945. Dibelius berichtet 1965, er sei gebeten worden, „ein kurzes Wort zu entwerfen, das das Schuldbekenntnis der Deutschen zum Ausdruck bringe. Was ich vorlas, fand Zustimmung". Nur Niemöller wünschte, das deutsche Verschulden noch klarer und konkreter zum Ausdruck zu bringen. Von ihm stammen die Worte, die noch eingefügt wurden: "daß durch uns Deutsche unendliches Leid über die Völker und Länder gebracht worden sei". Die Rezeption des Stuttgarter Schuldbekenntnisses wurde nur teilweise in dem Sinn vorgenommen, daß von dem Bekenntnis politischer Schuld die Rede gewesen war und daraus auch für den politischen Weg der Christenheit nach 1945 Konsequenzen politischer Art gezogen werden müßten. Helmut Gollwitzer sah Schuld und Vergebung ohnehin in ihrer politischen Relevanz; dafür könnte man sich vor allem auf das Alte Testament berufen.
Welche politische Komponente hat ein Bekenntnis der Schuld? Diese Frage stellt sich aktuell angesichts des Stuttgarter Schuldbekenntnisses von 1945 und der sich daran anknüpfenden, oft erbitterten und verbitterten Diskussion. War das Bekenntnis nur eine binnenbezogene christliche, wenn auch christlich-ökumenische erste Bereinigung zwischen den deutschen Christen und den Kirchen der Ökumene, die nach Stuttgart Vertreter gesandt hatten?
"Der Rat der EKD. begrüßt bei seiner Sitzung am 18./19. Oktober 1945 in Stuttgart Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen.
Wir sind für diesen Besuch umso dankbarer, als wir uns mit unserem Volke nicht nur in einer großen Gemeinschaft der Leiden wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld. Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über vie-le Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt ha-ben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalso-zialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat, aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.
Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden. Gegründet auf die Heilige Schrift, mit ganzem Ernst ausgerichtet auf den alleinigen Herrn der Kirche, gehen sie daran, sich von glaubensfremden Einflüssen zu reinigen und sich selber zu ordnen. Wir hoffen zu dem Gott der Gnade und Barmherzigkeit, daß er unsere Kirchen als sein Werkzeug brauchen und ihnen Vollmacht geben wird, sein Wort zu verkündigen und seinem Willen Gehorsam zu schaffen bei uns selbst und bei unserem ganzen Volk.
Daß wir uns bei diesem neuen Anfang mit den anderen Kirchen der ökumenischen Gemeinschaft herzlich verbunden wissen dürfen, erfüllt uns mit tiefer Freude.
Wir hoffen zu Gott, daß durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen dem Geist der Gewalt und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will, in aller Welt gesteuert werde und der Geist des Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme, in dem allein die gequälte Menschheit Genesung finden kann.
So bitten wir in einer Stunde, in der die ganze Welt einen neuen Anfang braucht:
Veni, creator spiritus!" (1)
Stuttgart, 18./19. Oktober 1945
Handschriftlich unterzeichnet ist die Erklärung von:
Theophil Wurm
Hans Christian Asmussen
Hans Meiser
Heinrich Held
Hanns Lilje
Hugo Hahn
Wilhelm Niesel
Rudolf Smend
Gustav Heinemann
Otto Dibelius
Martin Niemöller
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(1) „Komm, Heiliger Geist!"
Buchauszug "Politische Schulderfahrung der Kirche nach 1945" entnommen: Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Geist und Religion der Neuzeit, Band II, Pluralismus-Polarisierung-Kontinuität, Wandlung der christlichen Religion im 19./20. Jahrhundert, Verlag Rita Dadder, Saarbrücken, 1991
Vorschaubild: Friedrich Wilhelm Kantzenbach. © Bertuch Verlag Weimar